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Titel
Nationalsozialismus digital. Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS-Zeit im Netz


Herausgeber
Stumpf, Markus; Petschar, Hans; Rathkolb, Oliver
Reihe
Bibliothek im Kontext (4)
Erschienen
Göttingen 2021: V&R unipress
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Bartlitz, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der österreichische SS-Oberscharführer Josef Weiszl (1912–1984) legte ein Fotoalbum „Meine Dienstzeit“ an, in dem sich unter anderem Bilder der Deportation von Jüdinnen und Juden aus Wien finden. Das Album wurde in einem Volksgerichtsverfahren 1955 als Beweisstück eingebracht und anschließend im Wiener Stadt- und Landesarchiv verwahrt. Im Rahmen einer Ausstellung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erfolgten die Digitalisierung sowie die Präsentation einiger Bilder auf der Akademie-Website. Mit einem Mausklick kopiert, gelangten die Fotografien in das soziale Netzwerk Pinterest und finden sich dort aktuell unter dem Hashtag „Erster Weltkrieg“ (sic!) mit der Bildlegende „SD-Man Weiszl in Vienna, with a transport of Jews“.1 Abgesehen von dem Verstoß gegen das Urheberrecht stellen sich bei dieser Übernahme von Täterfotos ohne jeglichen Kontext auch Fragen ethischer Art im Hinblick auf die abgebildeten Jüdinnen und Juden.

Brigitte Rigele, Direktorin des Wiener Stadt- und Landesarchivs, demonstriert mit diesem Beispiel anschaulich die Herausforderungen, die sich bei der Digitalisierung von Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus ergeben (vgl. S. 50). Die knapp zwanzig Beiträge des Sammelbandes, mit dem für die Rezensentin etwas irritierenden Titel „Nationalsozialismus digital“, gehen auf ein Symposium der Österreichischen Nationalbibliothek und des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien im November 2019 zurück.2 Sie kreisen mit unterschiedlicher Gewichtung um die Aufgabe öffentlicher Gedächtnisinstitutionen, ihre Sammlungen unter Wahrung der rechtlichen Vorschriften breit zu erschließen, dabei aber auch ethische Gesichtspunkte zu berücksichtigen, um einerseits „im Geiste eines verantwortungsbewussten Umgangs mit der Vergangenheit unsere demokratischen Grundwerte zu schützen und andererseits […] die Quellen aus der NS-Zeit der Öffentlichkeit und Forschung möglichst lückenlos zugänglich zu machen“ (Johanna Rachinger, Direktorin der Österreichischen Nationalbibliothek, S. 10).

Die „digitale Revolution“ habe „für die Zeitgeschichtsforschung ungeahnte Möglichkeiten geschaffen“ (S. 19), betonen die Herausgeber Markus Stumpf, Hans Petschar und Oliver Rathkolb, aber auch eine negative Entwicklung mit sich gebracht: „Das World Wide Web wird zur größten Sammlung und Austauschbörse für antisemitische und xenophobe Darstellungen und Diskussionsforen, wo sich Weltverschwörungstheorien mit massiver gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit immer mehr ausbreiten. Daher sind bei der Veröffentlichung von Materialien aus der Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes besondere Kuratierung und Kontextualisierungen – sowohl aus dem Blickpunkt der politischen Bildung als auch aus rechtlicher Sicht – erforderlich.“ (S. 19)

Der Band ist in drei Teile untergliedert. Der erste Abschnitt „Zugänge und Fallbeispiele aus den Gedächtnisinstitutionen Museum und Archiv“ stellt Praktiken der Digitalisierung und Präsentation vor. Abbildungen mit verfassungsfeindlichen Inhalten in der Online-Objektdatenbank der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden zum Beispiel mit Wasserzeichen versehen, um die „zweifelhafte Verbreitung“ im Internet zu erschweren (Hans Walter Hütter, S. 31). Stefan Benedik und Monika Sommer vom Haus der Geschichte Österreich weisen zurecht darauf hin, dass sich das Problem, wie die NS-Geschichte und ihre Dokumente ausgestellt werden sollen, „nicht erst im digitalen Raum“ ergebe, sondern mit „Fragen der Erzählung und Gestaltung“ schon im analogen Museumsraum „virulent“ sei. Es gelte, „jene historischen Zeugnisse und Objekte, die als NS-Propagandamaterial produziert wurden, in dieser Funktion zu brechen und gleichsam distanzierend aus- bzw. darzustellen“ (S. 38f.).3

Der Kulturwandel, der mit der Digitalisierung einhergeht, betrifft in besonderer Weise auch die Archive. Die Nutzer:innen erwarten nicht nur, die „Erschließungsdaten“ im Internet einzusehen, sondern auch, die „Dokumente online lesen zu können“ (Rigele, S. 48). Für das Archivgut der NS-Zeit stehen der Forderung nach freiem Zugang aber rechtliche Einschränkungen entgegen. Neben der Problematik des Urheberrechts betrifft dies auch personenbezogene Daten Lebender sowie sensible Daten Verstorbener. „Wer trägt die Verantwortung für die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben?“, ist nur eine der Fragen, die in der Archiv-Community gegenwärtig diskutiert werden (Rigele, S. 60; vgl. auch Claudia Kuretsidis-Haider, S. 63ff.). Einen möglichen Weg, Zeitzeug:innen in ihren Persönlichkeitsrechten zu schützen, geht das Oral-History-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ an der Freien Universität Berlin: Zur Nutzung der Datenbank ist eine Registrierung notwendig, die vor der Freischaltung überprüft wird (vgl. Cord Pagenstecher, S. 108).

Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes beschäftigen sich mit „Nationalsozialismus und Rechtsextremismus virtuell und in den sozialen Medien“, also mit einem Thema, das viele Digitalisierungsprojekte von NS-Propagandamaterial begleitet: die Angst vor dem Missbrauch und der Aneignung historischer Quellen durch die extreme Rechte, die durch das Internet eine ganz andere Breitenwirkung erzielen kann. Genau eine solche Verwendung versucht die österreichische Internet-Meldestelle Stopline zu unterbinden (vgl. Barbara Schloßbauer, S. 177ff.). Radikal rechte Aktivitäten im Netz dienen der politischen Kommunikation, wobei insbesondere Social Media eine Eigenlogik aufweisen, wie Bernhard Weidinger hervorhebt: Das „Primat der (Sprach-)Bilder und Symbole“ im Rechtsextremismus, das generell Gefühlen – nicht zuletzt solchen der Angst – Vorrang gegenüber dem Verstand einräume, entspreche der „Bild- und Symbollastigkeit“ der Social Media (S. 132; vgl. auch Karin Liebhart, S. 139ff.). Inwieweit digitale Spiele das NS-Regime entpolitisieren, untersucht Eugen Pfister in seinem Beitrag „Spiel ohne Juden – Zur Darstellung des Holocausts in digitalen Spielen“ (S. 157ff.).

Der dritte Teil „Zugänge und Fallbeispiele aus der Gedächtnisinstitution Bibliothek“ macht den Schwerpunkt des Bandes aus. Das liegt an der stark wachsenden Bedeutung von Bibliotheken bei der digitalen Wiederveröffentlichung von NS-Schrifttum wie Zeitschriften, Monografien, Hitler-Reden (vgl. Maximilian Becker, S. 81ff.) und von NS-Fotografie (vgl. Hans Petschar u.a., S. 293ff.; Klaus Ceynowa, S. 267ff.; Norman Domeier, S. 343ff.), aber wohl auch an der Zusammensetzung der Autor:innen, von denen ein Großteil aus dem Bereich Bibliotheks- und Informationswissenschaften stammt. Allerdings ist der Anteil der Frauen unter ihnen mit insgesamt 7 von 26 Autor:innen auffallend gering.

Bei der Digitalisierung von NS-Zeitungen im Volltext besteht noch immer die Gefahr, mit der freien Bereitstellung im Internet verschiedene Straftatbestände zu erfüllen (vgl. Hermann Rösch, S. 218; Thomas Bürger, S. 287; Christoph Hanzig u.a., S. 329ff.). Diese Rechtsunsicherheit verhindert weitgehend die Digitalisierung bzw. die Digitalisate dürfen nur vor Ort eingesehen werden (wie bislang etwa im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung) – ein Zustand, der die Forschung behindert und die möglichen Vorteile der Digitalisierung konterkariert. Der Gesetzgeber ist hier aufgefordert, Rechtssicherheit zu schaffen (vgl. Rösch, S. 216).

Andere Autor:innen hinterfragen eine reine Reproduktion und Wiederveröffentlichung durch Digitalisierung, „denn die in den NS-Schriften enthaltene Hetze, Rassismus, Antisemitismus und NS-Propaganda bekommen damit in Form von Digitalisaten ein zweites Leben“ (Markus Stumpf, S. 244). Stumpf, einer der Herausgeber des Bandes, verweist auf NS-Hochschulschriften, die in menschenverachtender, rassistischer Weise pseudowissenschaftliche Ergebnisse verbreiteten. Diese Bücher ohne begleitende wissenschaftliche Kontextualisierung erneut zu veröffentlichen und in digitale Repositorien der Universitäten einzustellen, sei, so Stumpf, „keine kritische, angemessene und gerechte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den Opfern des Nationalsozialismus“ (S. 247). Als Best-Practice-Beispiel für „politisch-historische Aufklärung“ (Andreas Wirsching) ist jetzt die kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“ zu nennen, die Ende Juli 2022 auch in einer kostenfreien Online-Fassung vom Institut für Zeitgeschichte verfügbar gemacht wurde – textidentisch mit der gedruckten Ausgabe von 2016.4

Im Hinblick auf diese Fragen wird diskutiert, ob Bibliotheken nicht viel mehr Verantwortung zukommen solle: als „fünfte Gewalt“ im Staat, als „Korrektiv und regulierende Instanz“ in einer Gesellschaft, die sich durch die Entwicklung des Internets grundlegend verändert habe, „ohne dass gesellschaftliche Instanzen, wie Rechtsprechung, Fundamentalökonomie, Infrastruktur oder das Bildungssystem, mithalten konnten“ (Hans-Christoph Hobohm, S. 202f., S. 192). Braucht es zukünftig einen Ethikcode, der professionelle Standards bei der Digitalisierung von NS-Schrifttum transparent entwickelt und festschreibt (vgl. Rösch, S. 213ff.)? Denn der „Giftschrank“ als ein Prinzip institutioneller Sammlungen habe im Internet ausgedient (Bürger, S. 280). Die in der Bibliothekswelt immer stärker diskutierten ethischen Fragen erforderten jedenfalls eine breite öffentliche Debatte über den Umgang mit NS-Propaganda und neue Methoden digitaler Aufklärung (vgl. Edwin Klijn, S. 316ff.).

So unterschiedlich die Positionen teilweise sind, betonen alle Autor:innen des Bandes die Notwendigkeit, den Nutzer:innen Möglichkeiten der sprach- und bildkritischen Auswertung mit an die Hand zu geben, das Material zu kontextualisieren und auch Quellen der Gegner des NS-Regimes zu digitalisieren, um konträre Inhalte und Sichtweisen zugänglich zu machen. Ebenso klar ist allerdings, dass dies allein durch Bibliotheken nicht geleistet werden kann. Hier sind Universitäten und Forschungsinstitutionen auch inhaltlich mit in der Pflicht.

Auch wenn manche Beiträge eher als Projektvorstellungen angelegt sind und das Digitale nur am Rande behandeln, ist es das große Verdienst der Tagung und des Bandes, dieses disparate Feld in seiner Vielfalt erst einmal zu kartieren und die mitunter kontroversen Standpunkte vorzustellen. Bislang ist ein Großteil der Bestände aus der NS-Zeit noch gar nicht digitalisiert. Was soll zukünftig prioritär erschlossen und im Netz sichtbar gemacht werden? Wir werden uns mit diesen Fragen weiter beschäftigen müssen – der Sammelband „Nationalsozialismus digital“ bietet eine ausgezeichnete Grundlage dafür. Zur besonderen Freude der Rezensentin liegt der Band, der bei Vienna University Press / V&R unipress erschienen ist, im Open Access zum kostenlosen Download vor. Das ist überaus professionell und sollte unbedingt Schule machen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Letzte Orte vor der Deportation, Ausstellung, Wien, 09.11.2016 – 30.06.2017, die Pressefotos aus dem Album von Weiszl online unter https://www.oeaw.ac.at/?id=4610 (28.07.2022); Pinterest-Account von Larry J. Campbell, https://www.pinterest.de/pin/719098265474995157/ (28.07.2022).
2 Vgl. den Tagungsbericht von Jutta Fuchshuber, in: H-Soz-Kult, 31.03.2020, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127276 (28.07.2022). Eine nur wenige Wochen später veranstaltete Bremer Tagung trug demgegenüber den Titel „Zeugnisse des Nationalsozialismus, digital – Projekte, Methoden, Theorien“; siehe den Bericht von Friederike Jahn, in: H-Soz-Kult, 19.03.2020, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127261 (28.07.2022).
3 Wie das Haus der Geschichte Österreich dieses Postulat praktisch umsetzt, ist dort noch bis zum 09.10.2022 in der Ausstellung „Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum“ zu betrachten; siehe die Rezension von Wiebke Hölzer, in: H-Soz-Kult, 16.07.2022, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-390 (28.07.2022).
4 Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hrsg. von Christian Hartmann / Thomas Vordermayer / Othmar Plöckinger, Roman Töppel, unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Moser. Digitale Ausgabe, München 2022, https://www.mein-kampf-edition.de (28.07.2022); Andreas Wirsching, Vorwort zur digitalen Ausgabe, ebd., https://www.mein-kampf-edition.de/?page=Pref-Book%2FPref-Book_Sec3.html (28.07.2022).